Als erster olympischer Austragungsort wird Peking nach den Sommerspielen 2008 ab dem 4. Februar auch die Winterspiele ausrichten. Alle Teilnehmer und Begleiter werden wegen der Corona-Pandemie in einer hermetisch abgeschotteten „Blase“ leben – ohne Kontakt zur Außenwelt. Schon jetzt wirken die Bilder aus China wie aus einem Sience-Fiction-Film. Das Gastgeberland steht unter anderem wegen Unterdrückung am Pranger. Von den Uiguren, einer muslimischen Minderheit in der Provinz Xinjiang, wurden seit 2017 mindestens 1,6 Millionen Menschen in Umerziehungslagern inhaftiert, Völkerrecht erbarmungslos konterkariert. Es wird die glitzernde Propaganda-Show eines totalitären Überwachungsstaates. Mit freundlicher Unterstützung des IOC. Olympia geht den Bach runter! Meint unser Autor Ronald Toplak.
2022 wird ein Giganten-Sportjahr. Für einen Nerd wie mich. Der alles schaut. ALLES! Dafür wurde ich schon immer – nennen wir es – belächelt. Handball-EM, Olympia oder Fußball-WM. Freude. Spannung. Goldfieber. Das wäre mein Normalzustand. Diesmal ist alles anders. Mir ist der Spaß vergangen. Und das gründlich. Olympia in China? Fußball in Katar? Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen. Es wird kein goldenes Sportjahr. Sondern eines, an dem sich viele Parteien eine goldene Nase verdienen. Es geht um Geld. Viel Geld. Nur um Geld. Die Jugend der Welt? Zahlt die Zeche.
Corona. Menschenrechte. Proteste. Sind vielleicht nicht vergessen. Werden aber ignoriert. Nein, darauf habe ich überhaupt keine Lust. Ich bin desillusioniert, trete in den Sport-Lockdown. Abschalten. Nicht anschalten. Ich habe mir einen Stapel Bücher besorgt. Lesen. Statt TV-Marathon. Ich tauche ein. In eine Welt ohne Politiker, korrupte Funktionäre, Autokraten, Scheichs. In eine Welt, in der nicht jegliche Werte außer Kraft gesetzt, mit Füßen getreten werden.
Zugegeben. Das wird nicht leicht. Sport ist praktisch in meiner DNA. Ja, ich bin süchtig. Setze mich sozusagen auf kalten Entzug. Aber ich werde es schaffen. Zu groß ist meine Wut auf gewissenlose Typen wie Dr. Thomas Bach. Der promovierte Jurist hat offensichtlich ein einziges Ziel: Macht. Und Milliarden. Dafür geht die Moral den Bach runter.
Offiziell ist er als erster Deutscher Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Für mich ist er der Bach-elor. Die Rosen-Kavaliere heißen Ignoranz. Gier. Oder Beratungsresistenz. Ein Mann, der die Realität – aus meiner Sicht – verzerrt. Der Fecht-Olympasieger von 1976 lebt in einer verklärten Fantasiewelt. Einem rosaroten Wolkenkuckucksheim.
Peking ist aber kein romantischer Austragungsort, an dem sich alle lieb haben. Es wird ausgetauscht, weggesperrt, entsorgt, was nicht linientreu ist. Und schon gar nicht geliebkost, wenn etwas nicht funktioniert. Fatale Umstände, die man beachten muss, wenn man sich äußert. Gilt natürlich nicht für Herrn Bach. Der ignoriert, wo er kann. Der mächtigste Sport-Funktionär des Globus bleibt ohne Stimme. Sein Schweigen klingt in meinen Ohren. So verdammt laut, dass ich einen dröhnenden Tinnitus habe.
Den Umgang mit Uiguren und Tibetern, die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong oder martialische Drohungen gegen Taiwan. Die totale Überwachung der eigenen Bevölkerung. Zensur. Fehlende Nachhaltigkeit beim Bau der Sportstätten. In einer Gegend, in der es wohlgemerkt nicht schneit. Davon will der Chef-Diplomat nichts hören. Nichts sehen. Nichts wissen. „Die Olympischen Spiele können nicht die politischen Probleme lösen, die Generationen von Politikern bisher nicht lösen konnten.“ Für mich klassisches Hohlraumsausen. Der 68-Jährige schaltet auf Durchzug! Buckelt vor Diktatoren. Hofiert. Und lässt sich hofieren. Hauptsache, die Kohle stimmt. Lieber Handshake als Widerspruch. Ganz ehrlich? Dieser Mann ist ein personifiziertes Ärgernis. Sollte sich in Grund und Boden schämen. Dass das totalitäre Einparteien-Regime in Peking Olympia einzig als schillernde Propaganda-Fassade nutzt – egal. Weggucken. Wegducken. Aussitzen. So das Mantra. Weltweiter Kritik oder diplomatischem Boykott zeigt er die kalte Schulter. Das ist nicht weniger rücksichtslos, als das skrupellose Handeln der umschmeichelten Machthaber.
Zudem ist das Sport-Ereignis an sich – Ergebnisse, Medaillen – angesichts der Corona-Pandemie nur Makulatur. Good Morning, Wuhan! Um es defätistisch zu formulieren. Wie am Fließband werden derzeit positiv geteste Athleten aus dem Verkehr gezogen, noch bevor die Spiele begonnen haben. Ihrer Träume beraubt, stürzen sie in ein Tal der Tränen. Gold! Silber! Bronze! Ein virales Glücksspiel. Die gerade beendete Handball-EM lässt grüßen. Eine Farce. Es gibt für mich nur ein einziges Argument, das gegen einen Komplett-Boykott spricht. Der Verweis auf die Athleten, die nach Jahren aufopferungsvoller Vorbereitung darunter zu leiden hätten, wenn sie den Höhepunkt verpassen.
Natürlich verstehe ich jeden Sportler, der an Olmypia unbedingt teilnehmen möchte, das ganze Leben gezielt darauf ausgerichtet hat. Natürlich ziehe ich den Hut, wenn die ewig junge Eisschnelllauf-Königin Claudia Pechstein auf dem Oval mit bald 50 Jahren ihre Kreise zieht. Dass ihr die Ehre zuteil wird, bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne zu tragen. Natürlich ist es für mich nachvollziehbar, dass die deutschen Eishockey-Cracks die Silber-Sensation von 2018 in Pyeongchang (Südkorea) vergolden wollen. Natürlich hat mir Olympia immer wieder unvergessliche Momente beschert. Natürlich freue ich mich über jedes gewonnene Edelmetall des deutschen Teams.
Dennoch: Ich schalte ab. Gnadenlos. Schaue nicht zu. Begebe mich als Sportkulturpurist in olympische Quarantäne. Belege mich mit einer strengen Klausur. Schließe ein konsequentes Gelübde. Ein selbstgewähltes Zölibat. Fernseher und Bildschirme bleiben aus, kein Stream wird aktiviert. So schwer es mir fällt. So leid es mir tut. So sehr es schmerzen wird. Pünktlich zu meinem Geburtstag beginnen die Wettkämpfe. Ein schlechteres Geschenk hätte man mir nicht machen können. Olympia in Peking. Ich sehe schwarz. Schwarz, wie die verkaufte Seele der Spiele.
Bildquelle: picture alliance / AP Photo | lglanz|File|Filed|1/18/2017 11\11\18 AM, Denis Balobouse
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.