Für mich ist es eine sportliche Sensation. Nach 21 Jahren sind die Handballer des SC Magdeburg wieder die Handball-Könige in Europa. Der deutsche Vizemeister setzte sich in einem spannenden Final-Krimi mit 30:29 (26:26, 13:15) nach Verlängerung gegen Barlinek Industria Kielce durch. Der wahre Sieger ist für mich aber SCM-Trainer Bennet Wiegert. Als seine Spieler den Pokal in die Höhe stemmten, waren seine Gedanken ganz woanders.
Die Partie wurde beim Stand von 20:22 und 12:20 Minuten vor Spielende für 13 Minuten unterbrochen, weil ein polnischer Journalist auf der Pressetribüne zusammengebrochen war, infolge eines Herzstillstandes im Krankenhaus verstarb. „Ich bin zu Talant Duschebajew (Trainer von Kielce/die Red.) gegangen und habe gesagt: Lass‘ uns das Spiel beenden. Es gibt wichtigere Sache als Sport. Wir nehmen das Resultat und ihr seid Champions-League-Sieger“, berichtete Wiegert. „Was jetzt hier passiert ist, da sieht man wieder, wie nah doch Glück und Trauer beieinander liegen, wie das Leben so spielt“, sagte Wiegert und ergänzte: „Ich gehe mit allem, was jetzt hier passiert, total demütig um. Und es tut mir unheimlich leid. Meine Trauer, mein Beileid ist bei dem verstorbenen Journalisten aus Kielce. Es tut mir unheimlich leid. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ Die goldene Sieges-Trophäe? Unwichtig!
Es klingt kitschig, aber ganz egal wie teuer die Uhr war, mehr Zeit hat man trotzdem nicht. Das führte uns das Finale deutlich vor Augen. Höher. Schneller. Weiter. Der Jubel. Die Emotionen. Für den Handball-Lehrer am Ende alles nur Makulatur. Ein glückliches und erfülltes Leben hat nichts mit dem Materiellen und mit ideologischen Werten zu tun. Wir sind zu einer Gesellschaft von Erfolgsjunkies geworden. Wir verfallen in der Welt von Twitter, Instagram, TikTok und Facebook einer Illusion. Weit weg vom wahren Leben.
Wenn ich aus meiner Haustür trete, sehe ich viele Menschen, denen nicht bewusst ist, dass uns nur dieses eine Leben geschenkt ist. Doch dieses Geschenk hat ein Ablaufdatum. Ich selbst habe dies am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Der Hauch des Todes pfiff mir gewaltig um die Ohren. Wenn ich meinen Ärzten Glauben schenken darf. Ja, es kann so verdammt schnell gehen. Dass es uns gut geht, ist nicht selbstverständlich. Wir hetzen durch unser Leben. Atemlosigkeit als neues Lebenselixier. Aber, liebe Leute, wir haben nur dieses eine Leben. Wir sollten mehr Demut zeigen. Vor der kurzen Zeit, die uns auf Erden bleibt. Der Einstellung zu unserem Dasein.
Ein demütiger Mensch nimmt sich selbst nicht so wichtig. Erfolgsbessenheit ist nicht gleichbedeutend mit dem Verlust an Mitgefühl. Bennet Wiegert personifiziert die Tugend, dass andere Menschen ebenso wertvoll sind wie er selbst. Was sich auch darin manifestiert, wie er sich selbst darstellt. Im Angesicht des größten sportlichen Erfolges führte er uns vor Augen, was im Leben wirklich zählt. Nämlich das Leben selbst.
Ein Bewusstsein, das heutzutage nicht selbstverständlich ist. Verständnis. Sensibilität. Menschlichkeit. Seine Botschaft wird durch den Klangkörper des Triumphes verstärkt. Ich ziehe meinen Hut vor diesem Mann. Der ein Vorbild ist. Für uns alle.
„Beurteile einen Tag nicht nach den Früchten, die du geerntet hast, sondern an den Samen, die du gesät hast“, sagte der Schriftsteller Robert Louis Stevenson. Entscheidend ist, was einer tut. Bennet Wiegert setzt Prioritäten, hat einen Baum gepflanzt, mit Blättern aus Rücksicht, Anteilnahme, Mitleid und Respekt. Schon die Hand am Pott, hätte er auf den so ersehnten Lorbeer verzichtet. Im Namen der Empathie. Gelebte Menschlichkeit, eine existenzielle Notwendigkeit in dieser Zeit. Er hält einer Gesellschaft, deren Wertekompass aus den Fugen geraten ist, den Spiegel vor. Sein größter Sieg!
Foto: picture alliance/dpa | Marius Becker
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.