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12. Juni 1993: Als die Hertha-Bubis die Herzen eroberten!

Mein Ex-Boss sagte mal, er will nicht immer von der Vergangenheit lesen, wenn ich über Hertha BSC schreibe. Ich soll positiv in die Zukunft schauen. Mag ja stimmen. Aber heute muss ich nochmal in die Tasten hauen. Save the date. Vor genau 30 Jahren standen die Amateure von Hertha, die legendären Bubis, im Finale des DFB-Pokals. Auch wenn der hochfavorisierte Bundesligist Bayer Leverkusen mit viel Mühe 1:0 gewann, hatten die blutjungen Kerle ganz Deutschland verzaubert. 

Es war ein nasskalter Tag, der 12. Juni 1993. Knapp 15 Grad. Dauerregen. Da jagt man normalerweise keinen Hund vor die Tür. Aber an diesem Samstag war alles anders. Ich strahlte gegen das Schmuddelwetter an. Gemeinsam mit 76.391 Fans. Mein Herz, prall gefüllt mit Sonne. Die Bubis im Finale des DFB-Pokals. Ausnahmezustand der Endorphine. Höhepunkt eines wunderbaren Märchens. 

Ich habe in meiner Karriere viel erlebt. Heilige, Ikonen, Götter des Sports vor dem Schreibblock gehabt. Franz Beckenbauer, Jaromir Jagr, Joe Montana, Martina Navratilova, Dirk Nowitzki, Usain Bolt, David Hamilton. Mit Sergej Bubka war ich Möbel kaufen. Ich habe Deutsche-, Europa- und Weltmeisterschaften gefeiert. Weltrekorde erlebt. Ob Sie es glauben, oder nicht, ich habe sogar kurz nach der Wende die Victoria, den verschollenen Meisterpokal des deutschen Fußballs, wiedergefunden. Sporthistorische Momente, deren Bedeutung mir oft erst später richtig bewusst wurde.

Gänsehaut in Endlosschleife. Sicher. Aber NICHTS kann mit dem Erfolgszug der Hertha-Bubis mithalten. Nur einige Monate in über 30 Jahren Sportjournalismus. Doch es waren die schönsten in meiner Karriere.

Nie mehr hatte ich es mit einer so herrlich ungekünstelten, sympathischen, einfach liebenswerten Truppe zu tun. Auch als Außenstehender spürte man den Zusammenhalt dieser Mannschaft in jeder Faser seines Körpers. Höhenflug ohne Höhenflüge. Instagram, Facebook, YouTube, Twitter. Heutzutage wären die Jungs Superstars in den Sozialen Medien, die Follower-Zahlen in exorbitante Höhen explodiert. Damals war alles anders. Ein Selfie mit einem Handy, das so groß wie ein Aktenkoffer war? Lustige Vorstellung!

Die Geburtsstunde des Bubi-Wunders war ein 1:0-Sieg gegen die Reinickendorfer Füchse im Finale des Paul-Rusch-Pokals. Ich war dabei. Im Mommsenstadion. Größter Aufreger war, dass Füchse-Trainer Gerd Achterberg vom Platz gestellt wurde.

Hertha dümpelte seit den 80er-Jahren in den Niederungen des deutschen Fußballs. Ausnahme nur der Kurzzeit-Aufstieg in die Bundesliga 1990/91. Auch nur ein Funke, der nach nur einer Spielzeit verglühte. Berlin dürstete nach Erfolgen. Hatte sich aber damit abgefunden, nur Zaungast zu sein. Heimspiele gegen Oldenburg, Meppen oder Remscheid fanden oft fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. 3.000 Zuschauer in der maroden Betonschüssel Olympiastadion waren der Normalzustand. Der große Fußball kickte eben woanders. 

Auch die Bubis liefen im Pokal anfangs unter dem Radar. Im Stadion an der Osloer Straße im Wedding schlugen sie die Amateure des SGK Heidelberg mit 3:0. Noch eine Randnotiz. In der darauffolgenden Pokalrunde war der Gegner mit dem damaligen Zweitligisten VfB Leipzig schon namhafter. 4:2. Die Antennen in der Hauptstadt richteten sich auf. Und mündeten in totaler Euphorie, als in den kommenden Runden die Sensationssiege gegen Titelverteidiger Hannover 96 (4:3) und gegen den 1. FC Nürnberg um Keeper Andreas Köpke (2:1) folgten. Schon im größeren Mommsenstadion. Ob des Zuspruchs. 13.700 Fans waren es gegen den FCN. Eine für damalige Verhältnisse gigantische Kulisse. Berlin hatte wie aus dem Nichts neue Lieblinge. Begeisterung. Auch in den Redaktionsstuben.

30. März. Halbfinale gegen den Chemnitzer FC. Jetzt im Olympiastadion. Vor 56.000 Zuschauern. Ich rieb mir beim Blick auf die Tribünen ungläubig die Augen, verfolgte die Partie am Spielfeldrand. Als Tröster für Zoran Milinkovic. Der Spielmacher stand verletzt auf Krücken gestützt neben mir. 2:1. Wieder gewonnen. Wahnsinn! Exstase! Rausch!  Alle waren betrunken vor Glück. Sven Meyer sprang mir mit einem lang gezogenen „Tooopppiiiiiiiiii“ in die Arme. Der anschließende offizielle Empfang in den Stadionterassen war – formulieren wir es freundlich – steif. Zu langweilig für eine Truppe mit einem Altersdurchschnitt von 20,1 Jahren. Kurzerhand organisierten ein Kollege und ich eine richtige Party. Im State Street, der Sportsbar von Hertha-Legende Ellis Granitza. Wir kutschierten die Helden mit unseren Privat-PKW in die Grolmanstraße. Hier wurde die Nacht zum Tage gemacht. Die gläsernen Barleuchter gingen zu Bruch. Kollateralschaden. Carsten Ramelow etwa fuhr direkt zum Frühstücksfernsehen. Der Hype nahm ungeahnte Ausmaße an. Längst hatten alle die Bubis ins Herz geschlossen. Von der Spree bis zum Bodensee. Von Kiel bis München. 

Dann der 12. Juni. Finale. Ausverkauft. Natürlich. Die Hoffnung währte bis zur 77. Minute. Dann flankte Pavel Hapal von links, Ulf Kirsten spang hoch, stützte sich dabei auf den Rücken von Sascha Höpfner und wuchtete den Ball mit der Stirn ins Tor. „Foul!“ brüllte ich mit Inbrunst. Ganz klar. Da bin ich mir heute noch sicher. Hätte es damals einen VAR gegeben?! Gab es aber nicht. Aus der Traum. Der Himmel über Berlin weinte. Ich stand mit einem riesengroßen Schirm im Innenraum. Ja, das ging damals noch. In jedem Fall bin ich ob des knallbunten Parapluies auf vielen Fotos immer noch gut zu erkennen. Durchnässt bis auf die Knochen fuhren mein Kollege René Miller und ich erstmal nach Hause. Erst zu mir. Dann zu ihm. Blitzschneller Klamottenwechsel für die Finalparty in einem Hotel am Kudamm.

Langsam wich dort bei den Jungs der Frust dem Bewusstsein, eine historische Leistung vollbracht zu haben. „Wir haben genauso gefeiert, als hätten wir gewonnen“, erinnerte sich Ramelow später. Um es mit den Toten Hosen zu sagen: „In dieser Nacht der Nächte, erleben wir das Beste, kein Ende ist in Sicht.“ So war es! Happyend. Auch ohne Happyend. „Berlin schaut rosaroten Zeiten entgegen“, diktierte mir Bayer-Manager Reiner Calmund die Schlagzeile in den Block. Es kam anders. Wie heute jeder weiß. Weil die Helden verheizt wurden. Eine gigantische Erwartungshaltung lastete auf ihnen. Vor allem auf Ramelow. Ihn hatte ich schon als A-Jugendlichen besucht. Homestory im Kinderzimmer einer Hochhausiedlung in Buckow im südlichen Neukölln. Er war der große Hoffnungsträger. Das größte Talent des Hauptstadt-Fußballs trug fast allein die große Last auf seinen Schultern. Dabei war er fast noch ein Kind. Trotzdem kannte die Öffentlichkeit keine Gnade. Schnell war der Bonus des Pokalhelden verpufft. Gellende Pfiffe. Wenn es mal nicht lief. Das macht mich immer noch wütend. Er ging. Flüchtete. Nach Leverkusen. Und wurde am Rhein zum Topstar. Er stand mit der deutschen Nationalmannschaft im WM-Finale und mit Bayer Leverkusen im Endspiel um die Champions League. Weltklasse! Dennoch, kaum etwas kam an dieses Glücksgefühl mit den Bubis heran. „Die Amateurzeit bei Hertha war mit am schönsten.“ Eine unglaubliche Mannschaft. Ungezwungen. Ehrlich. Menschlich.

Auch wenn für die meisten die ganz große Karriere ausblieb. Neben Ramelow schafften nur Torwart Christen Fiedler, die Zwillinge Oliver und Andreas Schmidt,  Sven Meyer sowie Gerald Klews den Sprung zu den Profis und spielen dort eine mehr oder minder wichtige Rolle. Der Rest kam über den Status eines Amateurs nicht hinaus oder verschwand in der Versenkung. Doch egal wie die Karriere verlief, dieses besondere Band schweißte alle zusammen. Einmal Bubi. Immer Bubi. 

Mit einigen der Protagonisten blieb ich auch später privat in Kontakt. Oliver Holzbecher kam zum Beispiel mit einer guten Freundin von mir zusammen. Mit Wolfgang „Buzzi“ Kolczyk spielte ich sogar mal in einer Freizeitmannschaft auf einem Schotterplatz am Spandauer Grüngürtel zusammen. Davon hätte ich damals nie zu träumen gewagt. An einem Tag wie diesen. Dem 12. Juni 1993. Als die Hertha-Bubis die Herzen der ganzen Nation eroberten. Und meines. Als Höhepunkt einer fantastischen Reise, die ein Erlebnis war. Für die Ewigkeit. 

Foto: picture alliance /augenklick/firo Sportphoto | firo Sportphoto