1:0 gegen den Oman im letzten Test. Ein gutes Oman? Ein schlechtes Wortspiel. Ich weiß. Das Thema ist zu ernst. Versuchen wir es anders. Nun beginnt sie also, die Fußball-WM in Katar. In der Wüste. Im Winter. Dubiose Umstände der WM-Vergabe, tote Arbeiter beim Stadionbau, eingeschränkte Menschenrechte: Das Turnier sorgt weiter für Diskussionen. Zuletzt hatten schwulenfeindliche Aussagen eines WM-Botschafters für Empörung gesorgt. Schauen? Oder nicht schauen? Das ist hier die Frage. Ein Dilemma.
Neulich sagte ein Kumpel zu mir: „Die WM, die findet doch erst in vier Jahren statt!“ Die Fans scheinen sich einig. In konzertierten Aktionen machten sie bundesweit ihrem Unmut Luft. „Boykott“ stand auf Transparenten in den Kurven, quer durch alle Ligen, zu lesen. Aber der Grad der Akzeptanz im Publikum liegt noch hinter einem diffusen Sandsturm, der sich erst anhand der Einschaltquoten lichten wird. Ich bin gespannt. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin ein Sport-Nerd. Eine Fußball-WM mein ganz persönliches Hochamt. Zumindest war das mal so. Früher habe ich jedes Spiel gesehen. Jedes! Emotionaler Ausnahmezustand. An. Jedem. Verdammten. Spieltag. Dafür wurde ich belächelt. Auch von den Kollegen. Ich kann Ihnen heute noch sagen, wo und mit wem ich in den vergangenen 52 Jahren geschaut habe. Die WM 1970 in Mexiko war die erste, die ich als kleiner Junge bewusst wahrgenommen habe. Seitdem bin ich ein wandelndes Lexikon.
Aufstellungen, Torschützen, Spielorte, Stadien, sogar die Trikotfarben kann ich nennen. Eigentlich, dachte ich manchmal, sollte ich mich bei „Wetten, dass …?“ bewerben. Doch spätestens seit 2018 war alles anders. Der globale Titelkampf interessierte mich nur noch marginal. Ich zuckte ob des historisch schlechten Abschneidens der DFB-Stars kaum eine Augenbraue. Das bis zum Exzess kommerzialisierte Event holte mich einfach nicht mehr ab. Immer häufiger erwischte ich mich, dass ich lieber bei einem spannenden Krimi mitfieberte, statt uniformen Kicker-Klonen mit perfekt gestylten Gelfrisuren bei der Arbeit zuzuschauen. Aber Katar? Da bekam ich endgültig Hals!
Ja, ich weiß, schon Turniere in Südafrika oder Brasilien ließen Zweifel zu. Berichte über Stimmenkäufe, Strukturen und kriminelle Machenschaften, die in ihrer Schamlosigkeit sogar die Mafia neidisch machen, sorgten für Fassungslosigkeit. Inzwischen dürfte jedem noch so verklärten Romantiker selbst mit der allergrößten rosaroten Brille klar sein, dass auch das Sommermärchen in Deutschland gekauft war. Vermutlich schon einige Turniere vorher. Der Pokal wandert eben dorthin, wo das Geld ist.
Zurück nach Katar. Bei mir ließ Khalid Salman das Fass des Entsetzens überlaufen. Der Mann zählt zu den offiziellen Botschaftern. Er hatte in einer ZDF-Doku gesagt, dass Schwulsein verboten ist, weil es ein geistiger Schaden sei. „Haram!“ Wie bitte? Wer hier wirklich einen Totalschaden hat, steht wohl fernab jeder Diskussion. Da kann ich nur sagen: „Scheich dich, du Idiot!“
Ich habe mich mit meinem Freund Ingo unterhalten. Er ist Fußball-Fan. Leidenschaftlich. Und schwul. „Tante Inge“, so nennen wir ihn liebevoll. Ich lernte ihn in einer Fußballer-Kneipe kennen. Einem mit Testosteron geschwängerten Laden. Sicher. Aber: „Bei euch durfte ich sein, wie ich bin. Schwul? Oder nicht! Das war nie ein Thema.“ Zu seinem 50. Geburtstag zum Beispiel tanzten wir für ihn als Village People verkleidet YMCA! Mit Inbrunst vorgetragen. Klischee-Keule, sagen Sie? „Ich fand es toll“, erinnert sich Inge. Eben eine solche Party wäre in Katar nicht möglich. Wie steht er zu einer WM in einem Land, in der das islamische Recht gilt, Frauen nicht gleichberechtigt, außerehelicher und homosexueller Sex verboten sind, mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden können? „Ich kann es nicht nachvollziehen, wie man ein solches Turnier dort ausrichten kann“, sagt er kopfschüttelnd. „Das ist ein steinzeitliches Weltbild. Unfassbar!
Eine Vielzahl von Dingen, die dort passieren, nehmen mir jede Vorfreude. Die Aussagen des Scheichs sind absolut inakzeptabel. Ein anderer Kulturkreis. Okay. Aber das geht in einer modernen Welt überhaupt nicht mehr.“ Stimmt. Treffend formuliert. Die WM sollte ein weltoffenes Turnier sein. Ich würde es so ausdrücken: Angst weicht Toleranz. Toleranz weicht Akzeptanz. Akzeptanz weicht Resepekt. Vorurteile zu Vorteilen machen. Das sollten sich die restriktiven Scheichs auf die Fahnen schreiben. Und dabei über einen klugen Satz des Publizisten Michel Friedman nachdenken: „Man sollte mehr Vielfalt lehren. Dann gäbe es weniger Einfalt.“
Dem kann Inge nur zustimmen. „Ich möchte nicht über meine Sexualität definiert werden. Zuallererst bin ich Mensch. Auch, wenn es pathetisch klingt, meine Relgion heißt Liebe.“ Aber er gibt zu: „Auch in Deutschland nimmt die Homophobie wieder zu. Es kann gefährlich sein, als schwul, lesbisch, trans erkannt oder dafür gehalten zu werden. Das war schon mal anders.“ Im Klartext: Vor einem Kuss im Restaurant, vor einer zärtlichen Umarmung im Park wird erst die Umgebung genau gecheckt. Knutschen oder Händchen halten in der U-Bahn kann mit einer Tracht Prügel enden. Inge ist nebenbei ein Kerl wie ein Baum, den so schnell nichts einschüchtern kann. Mit Händen wie Gullideckel. Trotzdem sagt er: „In bestimmten Gegenden Berlins würde ich das nicht mehr offen ausleben.“ Seine Sätze stimmen nachdenklich. Die WM will Inge boykottieren. Fast. „Zugegeben. Die Spiele der deutschen Mannschaft schaue ich mir an. Manche mögen das für Doppelmoral halten. Aber da bin ich zu sehr Fan.“
Und ich? Schaue ich? Oder nicht? Fußball im Winter ist für Leute meiner Generation normal. Pause? Rasenheizung? Kannten wir nicht. Ich saß schon als Steppke bei Eiseskälte dick eingemummelt im Stadion. Bewaffnet mit einer von Mama mit heißem Kakao gefüllten Thermoskanne. Wir freuten uns auch als Spieler, wenn Schnee den Schotterplatz bedeckte. Konnte man endlich mal ohne Schürfwunden grätschen. Wir waren schmerzfrei. Jeder, der mal bei klirrenden Temperaturen einen Lederball auf den nackten Oberschenkel bekommen hat, weiß, wovon ich rede. Aber eine WM im Winter? Allein schon dieser Umstand hinterlässt bei mir einen irritierenden Beigeschmack von Glühwein, Zimt und Schmalzgebäck. Public Viewing in Mütze, Schal, Handschuhen, Daunenjacke? Statt Halbzeitgrillen in T-Shirt und Flip-Flops? Nein, darauf habe ich keinen Bock. Unabhängig jeglicher Politik. Dilemma? Ist nicht. WM? Ich scheich drauf! Alternativen gibt es genug. Wie am 6. Dezember. Da sind die Eishockey-Cracks der Eisbären auf dem Spandauer Weihnachtsmarkt zu Gast. Ich bin dort fest mit meinen Patenkindern verabredet. Dass an diesem Tag Spiele des WM-Achtelfinals stattfinden, ist mir völlig Rostbratwurst. Der 3. Dezember ist auch schon verplant. Da rocken die legendären Zoologen im Sportcasino des SC Staaken.
Vielleicht mache ich aber auch eine Zeitreise in meine Kindheit. Damals habe ich mit Kumpels die komplette WM mit Tipp-Kick nachgespielt. Hatte was. In irgendeiner Kiste muss ich dass zusammenrollbare Spielfeld und die Figuren noch haben. Wissen Sie was? Ich werde Inge mal fragen, ob er Lust dazu hat. In diesem Sinne: Salam aleikum!
Bild: picture alliance/dpa | Soeren Stache
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.