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WM: Das laute Schweigen des Irans!

Sie haben geschwiegen. Doch ihr Schweigen war laut. Ein Aufschrei gegen das Unrecht in ihrer Heimat! Beim WM-Auftaktspiel des Iran haben die Fußballer des iranischen Nationalteams darauf verzichtet, bei ihrer Hymne  mitzusingen. Stille Solidarität mit den Protesten in ihrem Heimatland. Auch die Gegenseite hat ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt: Vor dem Anpfiff sind die englischen Teamspieler gesammelt auf die Knie gegangen. Das Ergebnis? Nebensache. Was für ein Mut war dafür vom Team Melli erforderlich. Entschlossene Augen. Ernste Gesichter. Zusammengepresste Lippen. Für mich schon jetzt die Geste der WM in Katar. So viel Druck lastete auf diesen jungen Männern. Die ganze Welt schaute auf sie. Ihre ganze Nation hoffte. Denn es kam gar nicht gut an, dass es vor der Abreise nach Doha zu einem Empfang bei Staatspräsident Ebrahim Raisi kam. In geschniegelten Anzügen verneigten sich die Stars vor den erzkonservativen Herrschern. In den Sozialen Medien wurde das Team als „Mullah-Mannschaft“ beschimpft. Jetz zeigten sie die von Millionen Landsleuten ersehnte Haltung.

Lautes Schweigen“ ist ein Oxymoron (widersprechende Begriffe werden miteinander kombiniert). Lautes Schweigen kann es nicht geben. Kann es nicht? Kann es doch! So laut, dass die fundamentalistischen Mullahs einen Tinnitus im Ohr haben dürften. Ein Zeichen, das auf den Straßen des Irans gehört wurde. Sicher! Ich ziehe meinen Hut. Denn den Spielern und deren Familien drohen  drakonische Strafen. In einem Land, in dem Opfer gefoltert und die moralischen Werte des Frühmittelalters praktiziert werden. Die Einsatzkräfte des Regimes gehen mit brutaler Härte gegen die Demonstrierenden vor. Mehr als 400 Menschen sollen schon getötet, mehr als 15.000  inhaftiert worden sein.

Seit fast zwei Monaten wird über die Proteste in Iran berichtet. Auslöser war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini. Sie wurde von der Sittenpolizei festgenommen, da sie ihre Haare nicht vorschriftsgemäß mit ihrem Kopftuch bedeckte. Das iranische Gesetz sieht vor, dass Frauen ihr Haar in der Öffentlichkeit bedecken und keine eng anliegende Kleidung tragen. Drei Tage nach der Festnahme, am 16. Oktober, war Jina Mahsa Amini tot.

Die Spieler des Iran schafften das, wozu der DFB und andere Verbände nicht im Stande waren: Haltung zeigen. Opfer bringen, für die Überzeugung. Den Mächtigen die Stirn bieten. Bis Montag stand der Plan, dass Englands Spielführer Harry Kane gegen den Iran die One-Love-Binde als erster WM-Kapitän trägt. Auch Manuel Neuer wollte die spezielle Kapitänsbinde überstreifen, um  auf die massiven Probleme des Gastgeberlandes im Umgang mit Menschenrechten hinzuweisen. Nach einer aufgeladenen Debatte verzichteten sieben Mannschaften nun doch auf das bunte Stoffteil mit Herz am Oberarm. Neben Deutschen und Engländern waren Dänemark, Wales, Belgien, die Schweiz und  Niederlande fest entschlossen, in Katar ein Zeichen gegen Diskriminierung und für Toleranz zu setzen. Bis der Weltverband sie mit der Androhung von Sanktionen rüde abgrätschte. Ganz ehrlich: FIFA kann man nicht sinken. 

Die Funktionäre zeigen gnadenlos ihre kompromisslose Skrupellosigkeit, weil sie sich auf das peinliche Einknicken der europäischen Verbände verlassen können. Nicht einmal das kleinstmögliche Zeichen der Solidarität ist möglich.  Angst fressen Seele auf. Das ist eine – aus meiner Sicht – erbärmliche Reaktion. Ich hätte es überragend gefunden, wenn sich mehrere Mannschaften durch die Strafen selbst spielunfähig gemacht hätten. Was wäre passiert? Es wäre definitiv das Ende dieses selbstgefälligen Machtapparats gewesen. Stattdessen beugten sie sich den in einer modernen Welt unhaltbaren Direktiven. Empörung und Kritik, die jetzt zum Beispiel aus den betroffenen Lagern zu hören sind? Scheinheilige Lippenbekenntnisse. Selbst wenn die Mannschaften vom Turnier ausgeschlossen worden wären: Na und? „The Games must go on“ – wäre in diesem Fall sowieso kaum möglich gewesen. Gemeinsam sind wir stark? Von wegen! Narrenfreiheit für Money-Gianni Infantino und Kumpane. Irgendwo ist der Kompass verloren gegangen. Was für eine Riesenchance auf einen echten Neuanfang wurde hier vertan!

Anders die Spieler des Irans. Sie zeigten klare Kante gegen die Herrschaft der alten Männer. Das nötigt Respekt ab. Trotz Drohungen der religiösen Fanatiker eines Landes, das seit Jahren weltweit führend ist, was die Zahl der verhängten Todesurteile angeht. Für einen Moment rückte alles in den Hintergrund. Die schmutzige WM-Vergabe, der Binden-Zoff, der Groll auf Katar und die Winter-WM überhaupt. Viele wünschten sich im Iran ein Statement. Es kam. Ein emotionales Beben, das weltweit für Aufsehen sorgte. Doch dazu gehörte Kraft. Stärke. Ehre. Denn die Konsequenzen durch den autoritären Führungs-Zirkel sind nicht absehbar. Mit der Nationalhymne glorifizieren sich die islamischen Hardliner. Diese wird deswegen von Oppositionellen nicht anerkannt. Auf der Tribüne hatten Frauen Tränen in den Augen. Im Tribünenbereich war  ein Plakat mit der Aufschrift „Frau, Leben, Freiheit“ auf Englisch zu sehen, dem Slogan der Protestbewegung.

Die Spieler des Iran zeigten Standhaftigkeit. Im Willen nach Veränderung. Im Glauben mit dem Volk vereint: Keine Bühne für die Mullahs. 

Die FIFA hat dagegen mit dem Binden-Gate auch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Wenn überhaupt noch einer vorhanden war. Für die erpressten Verbände ist es eine Frage der Moral. Ein Symbol nur dann zu setzten, wenn es ohne Konsequenzen bleibt, ist pures Alibi, heuchlerisch, nicht ehrlich. Natürlich wird nicht alles besser, wenn man die Binde trägt. Es geht um etwas anderes. Nämlich um die Frage, wie man sich zu ihr verhält. Wieder ist eine Möglichkeit vertan worden, Widerstand gegen gierige Selbstdarsteller wie FIFA-Boss Infantino, dem glatzköpfigen Paten, zu leisten. Feigheit. Statt Mut. Das Ungetüm FIFA wütet weiter durch den Weltfußball, wie es ihm beliebt, agiert autoritär, lässt sich für genügend Geld von jedem Regime kaufen. Aus meiner Sicht sind die ach so kritischen Binden-Initiatoren Europas alles nur jämmerliche Mitläufer. Fremdschämen. Es ist, man muss es so klar formulieren, eine Schande. Fußball ist für alle da? Der blanke Hohn. Zwar hat die eher blasse „One Love“-Armbinde, ohnehin nur ein müder Abklatsch der originalen  Regenbogen-Variante, dank des Konflikts einen unerwartet knalligen Publicity-Effekt erhalten. Dennoch, dem Regenbogen wurde die Rote Karte gezeigt. Das inflationär propagierte Motto ist tot. Auch, weil unter anderem der DFB charakterlos lebenserhaltene Maßnahmen verweigerte. Ich trage daher ab jetzt ob des fehlenden Rückgrats der leitenden Repräsentanten meine ganz persönliche Binde. Einen Trauerflor. Die Idee, zumindest zwischen den Zeilen ein symbolträchtiges Signal gegen den Umgang mit fehlenden Rechten von Frauen, Homophobie, Gastarbeitern, Diskriminierung, eben zur Einhaltung von Menschenrechten zu setzen, wurde schon zu Beginn des Championats beerdigt. Traurig! Mut zu haben, ist nicht entscheidend. Man muss verstehen, ihn im richtigen Moment einzusetzen. Mut ist Widerstand gegen die Angst. Nicht die Abwesenheit, sondern ein Sieg gegen die Furcht. Gegen Unwägbarkeiten. Konsequenzen. Kaum hatte sich der Vorhang des umstrittenen Wüsten-Spektakels geöffnet, gab es nur Verlierer. Als Sieger zeigten sich nur die Spieler und Trainer des Irans. Bei ihnen ging es um mehr als einen Punktabzug. Oder eine Sperre. Sehr viel mehr. Sie waren dennoch laut. Die Stimme einer ganzen Nation. In aller Stille. Respekt!  Schließen möchte ich mit Worten von Bob Marley: „One love, one heart. Let’s get together and feel all right!“ Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Nachtrag: Die Farce geht weiter. Der DFB-Vorstand will nun vorm internationalen Sportgerichtshof (CAS) rechtliche Schritte einleiten, überprüfen lassen, ob das Vorgehen der FIFA rechtmäßig war.

Bild: picture alliance / EPA | Neil Hall

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