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Massig Tradition. Noch mehr Fan-Kultur. Und große Namen. Das 5:3 zwischen dem Hamburger SV und Schalke 04 im Saison-Auftaktspiel vor 57000 Zuschauern im ausverkauften Volkspark war ein begeisterndes Spektakel. Die 2. Liga ist erstklassig. Findet Hertha-Fan Ronald Toplak. 

Es hat etwas gedauert. Aber jetzt habe ich den Bundesliga-Abstieg von Hertha BSC verdaut. Zweite Liga. Zugegeben, das tut weh. Vor allem, wenn der Lokalrivale 1.FC Union wie im Märchen in Rekordzeit enteilt ist, mit Siebenmeilenstiefel vom Underdog zum Spitzenteam der Beletage mutierte, künftig sogar Champions League spielt. Wahnsinn! Man reibt sich ungläubig die Augen. Bayern München, Borussia Mönchengladbach oder Borussia Dortmund an der Alten Försterei, ganz um die Ecke, sozusagen im Vorgarten des Westends. Gemein! Real Madrid, Paris Saint-Germain, der SSC Neapel, FC Barcelona, Feyenoord Rotterdam oder Manchester City als mögliche Gegner in der Königsklasse sogar in Herthas Wohnzimmer, dem Olympiastadion. Knurr! 

Inzwischen aber habe ich die Wunden geleckt. Ich sage es laut: NA UND? Ich freue mich richtig auf Liga 2. Hamburger SV, FC Schalke 04, 1.FC Kaiserslautern, 1.FC Magdeburg, Eintracht Braunschweig, Hansa Rostock,  Hannover 96, FC St. Pauli, 1.FC Nürnberg, Fortuna Düsseldorf, Karlsruher SC. Was! Für! Namen! Mehr Meister als im Oberhaus (13/8). Da sind sicher sogar die Eisernen neidisch. Das schmeckt nach Bundesliga. Ist gefühlt Bundesliga. Ist besser als Bundesliga. So! Hoffenheim, Heidenheim, Wolfsburg, Mainz? Lächerlich! Im Unterhaus atmet die Tradition. Fan-Kultur pur. Das macht Spaß. „Ich komme bestimmt mal vorbei“, verspricht mir Helmut, ein bekennender Unioner. Ich garantiere, dass das Olympiastadion mehrfach ausverkauft sein wird. In meinem Freundeskreis ist die Euphorie jedenfalls groß. Fast alle haben eine Dauerkarte. Dabei bleiben sie in ihren Ansprüchen realistisch, wohltuend bescheiden. Keiner erwartet den sofortigen Wiederaufstieg. Den würde zwar niemand ablehnen. Doch die Alliteration heißt künftig erstmal: Sparen. Sanieren. Stabilisieren. Höhenflüge um jeden Preis? Abgelehnt! Immer schön auf dem Boden der Tatsachen bleiben. 

Das geerdete Motto in Charlottenburg gilt auch und vor allem für die Chefetage. Der fast schon sprichwörtliche Größenwahn gehört der Vergangenheit an. Gigantismus wird mit einem kräftigen Schuss Askese verdünnt. Mehr Demut, weniger Maßlosigkeit, wirtschaftliche Vernunft. Nicht ganz freiwillig, schon klar, aber die neue Klub-Philosophie. „Berliner Weg“, nennt sie Präsident Kay Bernstein. Da soll noch mal jemand behaupten, Hertha könne sich nicht ändern. Das hehre Ziel, sich (wieder mal) neu zu erfinden, kommt an, beim gebeutelten Anhang. Denn die Angst, angesichts extrem ambitionierter Wettbewerber durchgereicht zu werden, ist omnipräsent. Beispiele dafür gibt es genug. Arminia Bielefeld durchlebt derzeit dieses Horror-Szenario. Mit Argwohn wird vernommen, dass ein Profi nach dem anderen mit wehenden Fahnen zur stadtinternen Konkurrenz an die Wuhle wechselt. „Fehlt nur noch das Maskottchen Herthinho“, sagen Spötter sarkastisch. Typisch Hertha. Gefangen in einem Strudel der Gefühle. Wie heißt es: „Du kannst niemanden zwingen, dich zu lieben. Aber du kannst warten, bis das Stockholm-Syndrom einsetzt.“ Böse? Trotz und Selbstironie gehören zur DNA des Anhangs. Wut. Frust. Verzweiflung. In Endlosschleife. Das schweißt zusammen, kann eine Wand der Emotionen entwickeln. Auf den Rängen. Und dem Platz. Im positiven Sinne. Jetzt erst recht. Hoffnungsträger ist Trainer Pal Dardai, die Integrationsfigur und personifizierte blau-weiße Leidenschaft. Der Mann, lebt, fühlt, arbeitet Hertha wie kein anderer. Ehrlich. Bescheiden. Zuverlässig. Im Verbund mit seinen drei Söhnen. Heimkehrer Palko (24/von Fehérvár FC), Marton (21) und Nesthäkchen Bence (17) stehen allesamt im Profi-Kader der alten Dame. Eine historische Konstellation.  Einmalig im deutschen Fußball. Mehr Hertha geht nicht. Dardai BSC, das Quartett symbolisiert die allgemeine Aufbruchstimmung: Vier sind eine Familie! Vier halten zusammen! Vier sind Hertha!

„Alle Spieler sind meine Söhne“, verspricht der Papa dann auch schnell, dass seine Zöglinge keine Vorzugsbehandlung erhalten. Allein das Leistungsprinzip zählt. Vorwürfe der Vetternwirtschaft werden im Keim erstickt. Darauf reagiert der sonst so nette Ungar allergisch. Alles Paletti also. Nur keine weitere Baustelle. Davon hat man in Charlottenburg mehr als genug.

Fakt ist, die Möglichkeiten sind nach dem sportlich und wirtschaftlich existenzbedrohenden Absturz limitiert. Stars? Fehlanzeige! Wie die ablösefreien Neuverpflichtungen Toni Leistner, Jeremy Dudziak oder Anderson Lucoqui zeigen. Ansonsten will man auf Talente aus dem eigenen Nachwuchs setzen. Keine teuren Wanderarbeiter. Das schafft Identifikation. „Wir wollen alles, wir sind auch Träumer, alle – aber es gibt auch die Realität“, baut Dardai keine Luftschlösser. Kleine Brötchen backen. Für Überheblichkeit gibt es an der Hanns-Braun-Straße keinen Platz mehr. Respekt und Zurückhaltung hat man sich auf die Fahnen geschrieben. Das gibt Sympathie-Punkte. Obwohl Dardai nicht so richtig weiß, was die Zukunft bringt. „Wir wollen alle wissen, wo wir stehen. Wir werden sehen, wie reif wir sind.“ Kämpfen. Beißen. Rackern. Der Rasen muss vor euch zittern. Mehr wollen die Fans gar nicht. Nu aba ran an de Buletten, wir sind jespannt wie een Flitzebojen! 

Die gesamte 2. Liga freut sich auf Fußball-Feste. Hertha, HSV, Schalke, Pauli. Das verspricht zumindest Herzblut, hingebungsvolle Begeisterung, Spektakel, ganz viel Romantik, erstklassige Atmosphäre. Die Reset-Taste ist gedrückt. Neustart. 4000 Fans reisen zum Auftakt mit nach Düsseldorf. „Ich bin mit der gesamten Familie dabei“, strahlt mein Freund Matze. Gänsehaut! Das Kribbeln ist schon gewaltig. Schluss mit Jubel-Zölibat. Raus aus dem blau-weißen Fegefeuer. Es kann losgehen. Anpfiff!

Foto: picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann / SVEN SIMON