Im Olympiastadion spielte Depeche Mode. Für mich eigentlich eine Pflichtveranstaltung. Trotz der inzwischen unverschämten Preise. Ehrlich, das nervt. Egal. Kein Problem. Denn es gab einen Parallel-Termin, der wichtiger war. Hertha BSC gegen den BFC Dynamo im Jahn-Sportpark. Es gab für mich überhaupt keinen Zweifel: Da! Muss! Ich! Hin! Sorry, Dave Gahan. Sorry, Martin Gore. Der gesamte Prenzlauer Berg atmete Tradition. Ein Klassentreffen der Emotionen. Ich habe meine Entscheidung zu keiner Sekunde bereut.
Schon als ich an der Schönhauser Allee aus der S-Bahn stieg, prickelte es. Fußball-Fieber. Nicht wegen der hochsommerlichen Temperaturen. Es war fast ein bisschen wie Bundesliga. Obwohl beide Vereine davon im Moment leider nur träumen. Aber Herthaner und Dynamos können leiden. Und feiern. Sich selbst. Vor allem aber ihre Klubs. BSC! BFC! Eine Entscheidung für das gesamte Leben. Überall Trikots. Fan-Gruppen. Weinrot-Weiß. Blau-Weiß. An jeder Ecke. In jeder Kneipe. In jedem Café. Friedlich. Fröhlich. Freudestrahlend. Schön! So muss das. Ich badete in der Atmosphäre.
Fachsimpeln auf dem Weg ins Stadion. „Weeste schon? Wir müssen nicht nach Elversberg. Die spielen in Saarbrücken!“ Die fachkundige Antwort kam prompt: „Hab ick jelesen. Die bauen da um!“ Ich ging weiter. Immer wieder Umarmungen. „Ey, zieh dich ordentlich an“, wies eine Dynamo-Anhängerin ihren Begleiter energisch an. Und zupfte am offensichtlich niegelnagelneuen Leibchen. Bier und Bratwurst im Schickimicki-Kiez. Da staunte die Soja-Latte-Fraktion, die an mit Nackthafer-Körnern gesprenkeltem Banane-Pekanuss-Ziegenmilch-Karamell-Eis schleckte. Eine Gruppe frisch frisierter Hipster an der Ampel. „St. Pauli“, tönte aus den mit Kokoslotion gepflegten Bärten. Die Gruppierung mit jugendlichem Überschwang und Dutt auf dem Kopf wurde nicht mal ignoriert. „Ick lass mir doch von denen nicht die Avocado vom Chia-Brot nehmen“, grinste ein vor mir laufender Herthaner zu seinem Kumpel. So, kein Klischee vergessen? Nein! Ein paar trendige Lastendrahtesel weiter ertönten schon die ersten Gesänge. Vorbei ging es am Fahrradladen Legard. Eine kleine Trutzburg, 1979 eröffnet, die erfolgreich gegen die Gentrifizierung ankämpft. Ich kenne die Familie schon seit knapp 40 Jahren. Verwandtschaft meines Busenfreundes Armin. Da habe ich kurz nach der Wende mein Mountainbike gekauft. Ein bisschen Tante Emma. Klasse-Service. Sehr empfehlenswert. Ein kurzes Hallo. Ohne Käffchen. Keine Zeit.
In der Cantianstraße wurde ich von endlosen Schlangen begrüßt, die gefühlt bis nach Hohenschönhausen und in den Westend reichten. Was für ein Andrang. Die Sportslounge gegenüber, ein angesagter Treffpunkt, platzte aus allen Nähten. Dann hörte ich laut meinen Namen im wuseligen Gewimmel: „Toppiiii!“ Ich blickte mich um. Es war Thomas Mitew. Ex-Nationalspieler. Ex-Dynamo. Aber im Eishockey. Die Sportart, die ich päfieriert bearbeite. Gemeinsam ging es zur Abholkasse. Da fiel mir plötzlich auf: Presseausweis vergessen. Kein Problem, dachte ich in meiner mir ureigenen Arroganz. Mich kennt hier doch sowieso jeder. Von wegen. „Ausweis?“, war die erste Frage. „Name?“ Ich schluckte: „Ronald Toplak!“ Und fügte hoffnungsvoll hinzu: „Der von den Eisbären!“ Kurze Pause: „Zum Eishockey geh‘ ick nicht!“ Rumms! Worte wie eine Backpfeife. Der Angstschweiß lief in Strömen. Panik! Letztlich reichte dann aber die Akkreditierungs-Bestätigung auf dem Smartphone. Zum Glück ist heute nicht mehr 1990.
Als ich das erste Mal über Dynamo berichtete, war das Internet noch gar nicht erfunden. Aufatmen. Rein ins Stadion. Erstmal durch den falschen Eingang. Plötzlich stand ich in den Katakomben. Ob Sie es glauben oder nicht, mitten in der Hertha-Kabine. Fehlte nur noch, dass mir der Zeugwart die Töppen gereicht hätte. Ich war so überrascht, dass ich vergaß, Handy-Fotos zu machen. Unglaublich! Während ich darüber grübelte, ob mir der Schnappreflex eines Reporters verloren gegangen ist, war ich endlich auf der Tribüne angekommen. Ich erzählte Jörg Thomas, ehemaliger Vizepräsident der alten Dame, von meinem Malheur. „Trikot übergezogen. Und mitgemacht“, lachte er. „Ganz ehrlich? Meine Kondition reicht vom Spielertunnel bis zum Rasenansatz“, entgegnete ich. Selbst das ist übertrieben.
Die Pressetribüne war rappelvoll. Wie bei einem Länderspiel. Das Medieninteresse – gigantisch. Es gab noch freie Reihen. „Reserviert. Präsidium BFC Dynamo“, prangte auf großen Zetteln. Mein Kollege René Miller fragte höflich bei Karsten Valentin nach: „Dürfen wir?“ Wir durften. Blitzbeförderung in Sekunden. „Dabei bin ich bekennender Herthaner“, sagte ich. „Ich weiß“, meinte der BFC-Vize milde. Beste Sicht auf das Spektakel. Denn das war es. Beim Blick in das weite Rund kamen mir fast die Tränen. Die altehrwürdige Arena war in ihrer derzeitigen Auslastung ausverkauft. „Über 10000 Zuschauer“, wurde triumphierend über Stadionlautsprecher vermeldet. Eine grandiose Atmosphäre. Ich kann das beurteilen, habe ich doch in über 30 Jahren Sportjournalismus so einiges erlebt. Wichtiger war aber das Wiedersehen mit vielen Weggefährten. Karin, Wolfgang, Mathias, Kalle, Jörg – alle da! Plötzlich ein Schlag auf die Schulter. Andreas „Zecke“ Neuendorf huschte vorbei. Ein knappes Nicken mit Hertha-Boss Kay Bernstein. Mehr ging nicht. Der Mann hat viel zu tun, so kurz vor dem Saisonstart in Liga 2. Ehrlich, es war fast wie bei einem Klassentreffen. Plus diverser Anekdoten der alten Damen und Herren, zu denen zähle ich mich inzwischen. „Oll inklusiv“, sozusagen.
Der gemeinsame Kontrahent beider Fanlager war schnell gefunden. Das war im Wechselgesang unüberhörbar. Der kickt in Köpenick. Und bald in der Champions League. Ein Klassenunterschied? Sicher! Aber nicht auf den Rängen. Die Stimmung? Erstklassig! Gänsehaut in Endlosschleife. „Wir sagen Dankeschön!“, donnerte nach dem Schlusspfiff ein Song der Flippers durch den Sportpark, während sich die Teams von ihren Blöcken feiern ließen. Grenzwertiges Liedgut, wie ich finde, bei einer ansonsten sehr guten Musikauswahl des Stadion-DJ’s. Dennoch traf der Schlager den Nagel auf den Kopf. Aufbruchstimmung. Allüberall.
Herzblut. Leidenschaft. Hingabe. Ehrliche Liebe. Vereinstreue. Dieses Wort ist für die Fans keine leere Hülle. Sie haben jeden Buchstaben mit Leben gefüllt. Hertha-BFC – das passte. An einem denkwürdigen Sommerabend.
Ach ja, Fußball gespielt wurde auch. Hertha gewann 2:0. Aber das war am Ende nur Nebensache. Und Depeche Mode? Hat ein Zusatzkonzert in der MBA angekündigt. Na also. Da bin ich dann wieder dabei. Alles richtig gemacht.
Ronald Toplak, geboren am 5. Februar 1965 in Berlin, ist seit über 30 Jahren im Sportjournalismus für verschiedene Hauptstadt-Medien tätig. 25 davon als Redakteur beim Berliner Kurier. Er schreibt – nach einer gesundheitlichen Auszeit – nun als freier Autor.