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Spitzensport: Deutschland im Dart-Fieber

Der Saarländer Gabriel Clemens sorgte bei der Dart-WM in London für Euphorie. Deutschland ist völlig „Gaga“. Auch unser Reporter Ronald Toplak, einst genervt von den Pfeilewerfern, ist vom Virus infiziert. Bull’s-eye. Volltreffer. Mitten ins Herz. 

Eine Weihnachtssilvesterjahreswechselgeschichte. Aber der ganz anderen Art. Eine Menge Leute behaupten von mir, dass ich einen gewaltigen Pfeil im Kopf habe. Etwas verpeilt. Gemein, finden Sie? Nun, da ist schon ein Stück Wahrheit dran. Ist dieser Tage sogar ein Volltreffer. Nicht in den Kopf. Aber mitten ins Herz. Amor hat gezielt. Und getroffen. Ich habe eine neue Liebe gefunden. Plötzlich finde ich Dart voll geil. Sorry, Pfeil. Ich bin nicht mehr verpeilt, sondern verpfeilt. Genug der schlechten Wortspiele. Erstmal.

Es ist schon erstaunlich, dass ich Gefallen am Dart finde. Bisher war ich von den Pfeilewerfern eher genervt. Seit sie in Massen die Kneipen der Hauptstadt besetzen. Stammtische, früher tabu, werden von wildfremden Menschen zu Schreibbüros umfunktioniert. Alles wird im Besitz genommen. Sogar der Tresen. Panik breitet sich aus, wenn sie mit diabolischem Blick die Gasthäuser betreten. Die zudem vollgestopft sind mit unschönen Holzboxen, in die das Elektroboard eingelassen ist. Wenn es doch wenigstens echte Dartscheiben wären. So wie ich sie auf meinen diversen Reisen nach Irland in den Pubs kennengelernt habe. Die Protagonisten tragen Tändeltäschchen, für die ich einst auf dem Schulhof verprügelt worden wäre. Darin verstaut sind die Sportgeräte. 

Bisher war ich der Meinung, dass diese Leute einfach zu blöd für andere Sportarten wären. Einen Deckmantel gefunden haben, nach dem Motto: Ich mach auch Sport. Man muss schon zugeben, dass athletisches Aussehen oft – selbst bei den Profis – anders ist. Womit wir zum positiven Teil kommen. Jeder kann mitmachen. Ob dick, dünn, groß, klein. Quotenreglung? Unnötig. Mann und Frau spielen gemeinsam. Im Team. Oder gegeneinander. Diversität – überhaupt kein Thema. Sondern total normal. Vielleicht taugt Dart gerade deshalb zur Massenbewegung. Ein einfaches Spiel. Wohl jeder hat schon mal einen Pfeil geworfen. Es ist die Faszination des Banalen. Das Wetteifern im Herunterspielen von 501 Punkten mittels möglichst präziser Würfe aus 2,37 Metern Entfernung auf winzig kleine Felder zieht seit Jahren eine stetig steigende Zahl an Deutschen in den Bann.

Flipper? Kicker? Früher die bevorzugten Bieralternativen in den Eckkneipen der Hauptstadt, werden gnadenlos verdrängt. Selbst Billardtische sind inzwischen rar. Wenn ein Wirt was auf sich hält,  hat er ein Dart-Team im Laden. Mindestens. Die sicherlich den Umsatz fördern. Und die kuriosesten Namen haben. Dart Breakers, Bust Darts, Dart Side of the Moon, Dart Simpsons, Darty Deeds oder Dart Vaders. Um nur einige kreative Wortschöpfungen zu nennen.

Die perfekte Vermarktungsmaschine der zwei internationalen Dartsverbände, die für die Organisation der Turniere verantwortlich sind, ermöglicht den Boom. Vor allem aber muss man Dart ernst nehmen. Für die Stars der Szene ist es ein Hochleistungssport.  Konzentration und Koordination sind gefragt. Dicke Männer, die viel Bier trinken und auf die Scheibe werfen? Dieses Bild verändert sich immer mehr.

Spitzenspieler werfen mit drei Pfeilen 100 Punkte im Schnitt. Wer auf diesem Niveau mithalten will, steht täglich bis zu vier Sunden und länger am Board. Knallhartes Training. Fünf Tage in der Woche. 

Das gilt auch für Amateure. Zeuge, ein Busenkumpel von mir, ist dem Dart erlegen. Er hat seine Pfeile immer dabei.  Normale Gespräche sind kaum noch möglich. Listen to your Dart. Er ist ständig auf der Suche nach neuen Spielpartnern. Wirft, wo und wann es geht. Natürlich ist er auch in einem Team, das am regulären Ligabetrieb teilnimmt. Für andere Freizeitaktivitäten bleibt da keine Zeit. So hat er es auf ein beachtliches Niveau geschafft, das mit Kneipendart nichts mehr gemein hat. Ja, dieser Typ hat eine Scheibe. Im wahrsten Sinne des Wortes.  Spaß will erarbeitet sein. Dart – aber herzlich. 

Zeuge bei seiner Lieblingsfreizeitaktivität

Ein Mal im Jahr, rund um Weihnachten und Silvester, ist Ausnahmezustand. WM in London. Im Alexandra Palace. Dem Mekka der Pfeile. Der TV läuft in Dauerschleife. Der übertragende Sender Sport1 jubelt über grandiose Quoten. Längst hat Dart in dieser Zeit etablierte Sportarten wie Eishockey oder Basketball abgelöst. Vierschanzentournee, bei der wir seit Jahrzehnten zwischen den Jahren mitfieberten? Neujahrsspringen? Interessierte uns nur noch marginal. Darts ist inzwischen das Alternativprogramm über die Feiertage  Nicht nur für Freaks. Auch wie Leute wie mich, die überhaupt keinen Bock haben, die tausenste Wiederholung von „Stirb langsam“,  „Kevin allein zu Haus“, „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder – ganz schlimm –  „Sissi“ zu sehen. 

Gabriel Clemens hat in den vergangenen zwei Wochen für eine Mega-Euphorie gesorgt. Neue Eckpfeile(r) in den Festalltag gesetzt. Auch wenn er den ganz großen Wurf verpasste. Im Halbfinale der WM war Schluss. Der Saarländer verlor sein Spiel gegen den Engländer Michael Smith mit 2:6 nach Sätzen. Einen Tag zuvor hatte er noch mit einem famosen 5:1-Sieg über den Weltranglistenersten Gerwyn Price aus Wales für Furore gesorgt. 

Dennoch, selbst wenn das historische Darts-Märchen kein Happyend hatte, er stand im strahlenden Rampenlicht. Was der stoische Riese eigentlich gar nicht mag. Die Tagesschau berichtete regelmäßig in den Hauptnachrichten, deutsche Leitmedien überschlugen sich mit Kommentaren und Bewertungen, der Boulevard sowieso. Gefühlt bestand am Pfeile-Spektakel an der Themse ein größeres Interesse als an der Fußball-WM in Katar.

Ein Industriemechaniker aus dem Saarland. 1.95 Meter groß. Übergewicht. Doppelkinn. Unscheinbar. Ein echter Normalo, mit dem sich der geneigte Zuschauer im Fernsehsessel so wunderbar identifizieren kann. 39 Jahre. Nicht zwingend das Alter für einen Weltklassesportler. Eishockey-Ikone Jaromir Jagr (50) oder Football-Idol Tom Brady (45) mal ausgenommen.

„The German Giant“ nennen sie ihn auf der Insel. „Gaga“ ist sein Spitzname. Passt: In Deutschland sind plötzlich alle völlig gaga. Bricht nun das totale Darts-Fieber aus? Möglich, eine große Fanbasis ist vorhanden. Wenn die Karawane etwa in Berlin Station macht, platzt die Mercedes-Benz-Arena aus allen Nähten. Noch sind die Superstars Briten und Niederländer. Es bräuchte einen deutschen Helden, der bei der WM ganz oben mitspielt, hieß es stets – jetzt ist Clemens da. Er hat der Welt gezeigt, dass auch in den kommenden Jahren mit ihm zu rechnen ist. „Obwohl ich verloren habe, hat der Ally Pally meinen Namen gerufen. Das ist schon besonders!“ Ist es. Erst seit vier Jahren verdient er sein Geld hauptberuflich damit, Pfeile auf eine Scheibe zu werfen. Ein mutiger Schritt. Längst nicht jeder, der sich als Profi bezeichnet, kann davon leben. Die Besten sind Millionäre, wie Michael van Gerwen, der Dominator der Szene. Der Top-Favorit aus Holland verlor allerdings das WM-Finale gegen einen sensationell aufspielenden Smith (inklusive 9-Darter im besten Leg aller Zeiten) mit 4:7. Der Clemens-Bezwinger ist damit um 565 000 Euro reicher, zudem die neue Nummer 1 der Welt.

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Das beste Leg aller Zeiten.

Dahinter wird die Hatz nach den Preisgeldern oft existenziell. Clemens ist aber in der Weltspitze angekommen. Ein echter Spitzensportler. Seine Erfolgskurve zeigt Pfeil nach oben.  „So ein Halbfinale bei einer WM – das macht schon Spaß, ich könnte mich dran gewöhnen.“ Er sei „auf jeden Fall bereit“. 

Zeuge war über das Aus seines Erzengels nur kurz enttäuscht. Er stellte sich an die Scheibe, warf noch ein paar Pfeile. Man sah es ihm an, er träumte davon, wie es wäre, wenn er auf der Bühne im legendären Ally Pally stehen würde. Warum nicht? Üben. Üben. Üben. Und immer an die Doppel denken. Der Pfeil gibt die Richtung vor. Das hat Gabriel Clemens allen gezeigt.

Foto: picture alliance / empics | Zac Goodwin