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Er gewann Wimbledon mit 17, wurde zum Idol einer Generation – und stürzte tief.

Boris Becker war mehr als ein Tennisspieler: Er war Aufbruch, Identität, ein deutscher Mythos. Sein größter Triumph jährt sich heute zum 40. Mal. Eine Rückschau voller Bewunderung, Zweifel – und bleibender Verbundenheit.

Ich weiß noch genau, wo ich war, als Boris Becker Wimbledon gewann. Wir waren alle da. Selbst meine Mutter, die Tennis für eine seltsame Mischung aus Spazierengehen und Tischtennis hielt. Sogar meine Schwester, die in Sachen Sport sonst nur bei Olympischen Spielen den Fernseher einschaltete. Wenn überhaupt.

Ein Sonntag im Juli 1985. Draußen war Sommer, drinnen war Boris. Finale gegen Kevin Curren, den kannte keiner, war aber egal. Becker war 17, ich war 20. Als er zum letzten Aufschlag antrat, wurde es still im Wohnzimmer. Mein Onkel, 80, hob die Hand. „Ruhe!“ Als wären wir im Publikum. Als könnten wir ihm helfen. Dann: Matchball. Dann: dieser Jubel. Als hätten wir alle zusammen gewonnen. Ich erinnere mich an Arme, die wir in die Höhe rissen. An den Geruch von Filterkaffee. Und an dieses seltsame Gefühl, das sich später „Identifikation“ nennen würde.

Boris Becker hat Tennis in dieses Land geprügelt. Er hat uns gezwungen, uns dafür zu interessieren. Er hat einen Sport, der bis dahin irgendwo zwischen Lord-Klub und Damen-Kränzchen dümpelte, ins Herz der Wohnzimmer getragen. Mit ihm wurde Tennis Familienpflicht. Wie „Wetten, dass..?“ nur mit weißen Shorts.

Er war nicht elegant. Er war auch kein Genie. Er war einfach da. Und sprang. Und fiel. Und rappelte sich auf. Er hat sich in den Rasen geworfen, als hätte er etwas verloren und wollte es wiederfinden.

Wir hatten keine Helden damals. Jedenfalls keine, die nicht schon schwarz-weiß waren. Becker war Farbe. Tempo. Lautstärke. Wenn er gegen Typen wie McEnroe oder Lendl spielte, wurde die Nacht zum Tag gemacht. Die Bösen gegen den Rothaarigen aus Leimen. Und egal, ob er gewann oder verlor: Boris war unser.

Steffi Graf kam später. Auch sie wurde Weltstar, aber anders. Präziser, kontrollierter. Bei Boris war immer Drama. Immer Risiko. Selbst beim Aufschlag sah es manchmal so aus, als könnte es auch schiefgehen.

Dann kam alles andere. Die Besenkammer. Die Boulevard-Schlagzeilen. Das Lächeln wurde müder. Die Haare dünner. Die Fehler größer. 2022 dann das Gefängnis. Wegen Geld. Weil man es haben oder verstecken wollte. Oder beides.

Ich weiß noch, wie seltsam das war. Dass Boris Becker ins Gefängnis musste. Als würde jemand den Weihnachtsmann verhaften. Man hatte doch mit ihm mitgefiebert. Und jetzt das.

Heute spricht er im Fernsehen. Ausgezeichnet mit Preisen. Über andere. Über das Spiel. Man hört ihm zu. Seine Stimme ist rauer. Die Sätze vorsichtiger. Aber manchmal blitzt etwas auf. Ein Blick. Eine Formulierung. Man sieht den Jungen von damals noch.

Sein Wimbledonsieg jährt sich heute zum 40. Mal. Ich denke zurück an diesen Tag. An meinen Onkel. An das Wohnzimmer. An die Stille vor dem letzten Aufschlag. Und daran, wie wir alle jubelten, als wäre es auch unser Sieg gewesen.

War es ja irgendwie auch.